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Arbeitszufriedenheit, Selbstverwirklichung und Co.

In Blogs, Podcast oder Videos zu Themen wie ‚modere‘ Führung, Agilität, Autonomie, Motivation, Arbeits- und Prozessgestaltung, gewaltfreie Kommunikation etc., geht es oft darum, wie wir all diese Dinge arrangieren oder nutzen, damit die Mitglieder einer Organisation nicht nur ihre beste Leistung im Sinne der Organisation bringen. Sie sollen sich dabei auch gut fühlen. Einen Sinn in ihrer Arbeit sehen, Entscheidungsfreiheit bekommen, sich selbst entwickeln und verwirklichen können und eine gute Work-Life-Balance haben, die Arbeitszufriedenheit soll steigen und Ähnliches mehr. An sich alles gut so. Aber…

All das oft vor dem Hintergrund der Annahme, dass ‚alle‘ Menschen Selbstverwirklichung, Sinnstiftung – persönlicher sowie gesellschaftlicher Sinn –, Autonomie und Kreativitätsentfaltung in ihrer Arbeit suchen. Für viele Menschen mag das sicher auch gelten. Doch wenn wir in Beratung, Coachings, in Büchern, Seminaren und Workshops jedem dieses Korsett überziehen wollen, werden wir den Bedürfnissen und Ansprüchen der Menschen und Organisationen nicht gerecht. Wir verwenden diese positiven (oder, positiv klingenden) Begriffe schnell mal ohne zu schauen, was eigentlich dahintersteckt. Was bedeutet in einem bestimmten Fall eigentlich Sinn? Was gehört noch dazu, wenn wir mehr Autonomie für unsere Mitarbeiter einrichten wollen, als zu sagen, du darfst jetzt selber entscheiden? Wollen die Leute mehr Autonomie, Verantwortung oder Agilität? Ist es überhaupt sinnvoll für Organisation X oder Abteilung Y? Ist Mitarbeiter X oder Mitarbeiterin Y überhaupt hier in der Firma, um sich selbst zu verwirklichen? Wer sucht all das eigentlich in seiner/ihrer Arbeit und wer nicht? Das sind meiner Wahrnehmung nach typische Fragen, die gerne offengelassen oder gar umgangen werden.

Die Perspektive erweitern

Wenn wir in der Organisationsberatung und -entwicklung, im Führungscoaching, als Agile Coach, im Teambuilding etc. unterwegs sind, entwickeln wir schnell eine etwas verzerrte Sicht. Wir bekommen vermutlich zunächst aus den Best-Practice Beispielen in der Fachliteratur sowie der grundlegenden Stimmung und Haltung in Foren, Diskussionen mit Kollegen:innen usw. das Gefühl: „Ja, wir müssen den Leuten nur helfen, all die oben genannten schönen Dinge in ihrer Organisation für Ihre Führungskräfte und Mitarbeiter:innen zu implementieren. Dann wird ‚alles‘ gut.“ Doch ist dem wirklich so?

Unsere Sicht wird nicht bloß durch unsere Sozialisation und Erfahrung in der Welt und Kultur beispielsweise der OE geprägt und verzerrt. Wir entwickeln einen entsprechenden Berufshabitus1. Also für unsere Profession typische Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Denk- und Handlungsschemata2.  Vor allem aber haben wir häufig auch einen sehr selektiven Kundenkreis.

Unsere Kunden und deren typische Mitarbeiter, oder zumindest die Ebene, um die es oft geht, kommen doch häufig aus Branchen oder befinden sich auf Hierarchiestufen, auf denen so etwas wie Selbstverwirklichung, Freude an der Arbeit, inhaltsorientierte Arbeit etc. einen größeren Stellenwert haben. In Seminaren an denen ich teilnehme oder die ich gebe, wird zu ca. 80-90 % von Kunden und Beispielen aus der Finanz- und Versicherungsbranche, Hochschulen, Forschung- und Bildung, Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung, IT-Unternehmen/-dienstleistern, oder auch mal aus dem Profisport oder von Start-ups berichtet. Selbst wenn von Großunternehmen anderer Branchen erzählt wird, geht es selten um die Menschen ganz untern in den Hierarchieebenen. Ich habe noch von keinem Teambuildingworkshop für die Reinigungskräfte eines IT-Unternehmens gehört (was natürlich nicht heißt, dass es so etwas nicht gibt). Achtung, Satire: Wenn ich den Männern vom Bau mit einem Workshop zum Thema gewaltfreie Kommunikation zur Verbesserung des Miteinanders komme, muss ich vermutlich ein paar Runden im Betonmischer drehen.

Die Rede ist fast nur von denen den Führungskräften, Entscheidern, und Mitarbeiter:innen mit ‚besserer‘ (Aus-)Bildung. Dort ist es vermutlich leichter, Autonomie zu ermöglichen und Gestaltungsspielräume zu geben, als z. B. bei einem Fließbandarbeiter oder einer Fließbandarbeiterin. Es ist leichter für jemandem, der in einem Forschungsprojekt relativ offen forschen kann, die Arbeit, Arbeitszeiten, Aufgabeneinteilung, Herangehensweisen etc. autonom und mit hoher Eigenverantwortung zu gestalten, als für jemandem, der bei Aldi die Regale auffüllt. Fragen Sie mal die Menschen im Forschungsprojekt und diejenigen, die im Supermarkt Regale einräumen, warum sie diesem Beruf nachgehen, welche Ansprüche sie haben, wie wichtig der Inhalt der Arbeit ist und welche Ziele sie dort erreichen wollen. Ich nehme an, dass die Antworten im Großen und Ganzen sehr unterschiedlich ausfallen werden.muss

Und die, die gar nicht wollen?

Aber auch unabhängig davon gibt es viele Menschen, die nur oder überwiegend arbeiten, um Geld zu verdienen. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern und/oder die Dinge, die ihnen Sinn und Freude oder Selbstverwirklichung geben, zu ermöglichen. Arbeit als Mittel zum Zweck. Was auch immer der Grund dafür sein mag. Diese Menschen holen wir anders ab, als jemanden, der aus voller Leidenschaft Fußballprofi oder Programmierer:in geworden ist.

Ebenso gibt es auch Menschen in den hierarchisch höheren Positionen, oder Teammitglieder in Positionen mit hohen Anforderungen an Kenntnisse, Fertigkeiten oder (Aus-)Bildung, die gar nicht (noch) mehr Autonomie oder Verantwortung wollen. Vielleicht haben sie sogar genau diesen Beruf gewählt, weil sie im Alltag schon genug Autonomie, Verantwortung oder Agilität an den Tag legen müssen. Das wollen sie nicht auch noch bei der Arbeit.

Vor allem dann, wenn es in der OE, in der Gestaltung von Arbeit, Trainings und Fortbildungen um Mitarbeiterzufriedenheit, Motivation, Fluktuation, Neueinstellungen, Kulturwandel etc. geht, sollten wir all die unterschiedlichen Bedürfnisse, Motive und Perspektiven der Mitarbeiter:innen nicht vergessen. Nur dann tragen unsere Beratung und Change-Projekte langfristig Früchte. Ich sage mal ganz provokativ, wir müssen auch über den Tellerrand der Stereotype der positiven Psychologie hinausschauen.

Dann helfen wir den Menschen und Organisationen wirklich, sich zu entwickeln und zu entfalten. Und zwar so, wie es für die jeweilige Person oder Organisation Sinn ergibt.

Literatur

  1. Silva, E. B. Habitus: beyond sociology. The Sociological Review 64, 73–92 (2016).
  2. Bourdieu, P. Die feinen Unterschiede. (Suhrkamp, 1982).

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