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Judo und die Welt der Organisationen – eine erste Perspektive

Wir leben in einer bewegten Welt, in der Werte, Praktiken, ökonomische und gesellschaftliche Dynamiken, persönliche Herausforderungen etc. sich oft in rasantem Tempo wandeln und fließen, eine VUCA-Welt (volatile = unbeständig; uncertain = unsicher; complex = komplex; ambiguous = mehrdeutig) (Elkington et al. 2017). Vor allem im Bereich von Organisationen und Unternehmen kommt der Begriff zur Anwendung. Um in dieser Welt zurechtzukommen, müssen wir das eine oder andere im Griff haben. Wir müssen mit all diesen von außen an uns herangetragenen Herausforderungen erfolgreich umgehen. ‚Agilität‘ wird gefordert. 

Im Judosport ist es ähnlich. Auch ein Judokampf ist unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig. Die Gegebenheiten sind stets etwas anders. Wir wissen nie genau, wie er verlaufen wird oder was unser:e Partner:in oder Gegner:in tun wird. Es gibt unzählige Optionen für die verschiedenen Situationen. Die Signale, die unser Gegenüber durch ihre Aktionen sendet, sind oft mehrdeutig (denken Sie an eine Finte) usw.

Der Griffkampf

Ohne den Partner im Judo gegriffen zu haben, ist keine Judotechnik möglich. Egal, wie agil wir sind. Für Nicht-Judoka: Der Griff ist die Art und Weise, wie wir unser Gegenüber mit den Händen an der Judojacke anfassen. Den/die Partner:in (oder Gegner:in in einem Wettkampf) ‚im Griff‘ zu haben, ist das Fundament, von dem aus dann alle weiteren Schritte eingeleitet werden können. Das wäre beispielsweise eine Wurftechnik. Mit unserem Griff haben wir den anderen zwar nicht voll unter Kontrolle, aber einen gewissen Einfluss eben schon. An dieses Bild anschließend, müssen Geschäftsführer:innen ihren Laden eben auch im Griff haben. Sie sollten wissen, wie sie die Einflüsse von außen anpacken können. 

Dieses ‚im Griff haben‘ ist ein geführtes, dynamisches, situationssensibles ‚Anpacken‘, dass einem erlaubt, im richtigen Moment die richtigen Impulse zu geben, z. B. ein kräftiger Zug am Arm im Judo oder eine effektive Kommunikationsform als Teamleader. Oder auf Impulse von außen angemessen zu reagieren. Beispiele dafür sind ein Ausweichschritt nach einem Angriff oder ein passendes Manöver, wenn ein neuer Konkurrent in den Markt eintritt. Daraus folgen dann weitere Schritte zur Lösung des Problems, oder zur Erreichung eines Ziels. Keineswegs ist damit ein mit aller-Kraft-Zupacken und starres Festhalten gemeint, aus dem dann ein kräftezehrendes, aber wenig effektives und effizientes Drücken und Schieben resultiert. Es geht darum, mit geschickten Mitteln die vorhandenen Kräfte optimal in Richtung Lösung/Ziel zu führen. Es geht um das ‚ju‘ (jap. = sanft, flexibel, nachgeben) im Begriff Judo. Judo folgt dem Prinzip Seiryoku-Zenyo, der maximal effizienten Nutzung von Energie mit Körper und Geist in Harmonie (Agúndez 2020, S. 36).

Die Art zu greifen, verändert sich immer wieder, z. B. mit den Regeln. Das ist insbesondere wichtig, da diese Regeln üblicherweise außerhalb der Kontrolle der Athleten und Athletinnen sind. Sie müssen sich also an veränderte Umstände anpassen, körperlich wie geistig (Stichpunkt: VUCA). Wird eine bestimmte Art zu greifen verboten, muss eine Alternative gesucht werden. Andernfalls wird man bestraft und fliegt ggf. aus dem Wettbewerb. Aber auch Änderungen im Kampfstil, der Art und Weise sich zu bewegen, neue Trainingsmethoden o. Ä. – im Prinzip also Veränderungen informeller Normen und neue Praktiken und Denkweisen – erzeugen Zugzwang. So wurden auch unkonventionelle Arten zu greifen beliebter und erfolgreicher. Der Brite Neil Adams hat ein ganzes Buch über den Griff im Judo geschrieben (Adams, 1992).

Organisations-Judo

Parallelen zur Vereins-, Verbands- oder Unternehmenswelt sind leicht zu erkennen. Sowohl veränderte Gesetzte als auch Wertewandel, neue Denkweisen, ökologische Herausforderungen, soziale und technologische Innovationen oder veränderte Nachfrage üben immer wieder Druck aus. Im Judo wie in Organisationen müssen wir stets auf verschiedene Umwelteinflüsse – manche spontan und kurzfristig, andere geplant und langfristig – reagieren. Das zieht meistens Änderungen im eigenen Verhalten nach sich. Über einen Fehlschluss stolpere ich aber manchmal: Manch einer hat das Gefühl, man müsse eine 180°-Wende hinlegen oder das Rad neu erfinden, um etwas zu bewegen. Ab und zu wird diese Annahme dann als Ausrede genutzt, um eben nichts zu tun – und sich später dann zu wundern, dass man den Anschluss verpasst hat.

Das bereits zitierte Werk über Grifftechniken im Judo von Neil Adams präsentiert zum einen eine unglaubliche Bandbreite an Griffmöglichkeiten. Zum anderen zeigt er immer wieder, wie es letztendlich kleine Modifikationen und Anpassungen sind, die den Athletinnen und Athleten helfen, kämpferische Situationen mit Judotechniken zu lösen. Das beinhaltet sowohl den Griff als Vorbereitung der eigenen Wurftechnik, als auch zur Verteidigung gegen Angriffe des anderen. Außerdem gehören Herangehensweisen dazu, wie ich überhaupt zu meinem Griff komme oder den, des Gegenübers, abwehre.

An diesen Griff zu kommen und der Kampf um den Griff, hat viel mit Verhandlungen und aktivem Zuhören zu tun (wobei das eigentlich für den ganzen Judokampf gilt). Jede Griffaufnahme, jede Abwehr oder Lösung eines Griffs, ist ein Angebot, auf das ein Gegenangebot folgt. Hören wir diesen Angeboten aktiv zu, können wir sie nutzen – und zwar zu unserem Vorteil und auch dem des anderen (Agúndez 2020, S. 141-142). Was genau der Vorteil des anderen ist, der ja jetzt den Kampf verliert, dazu in einem folgenden Beitrag mehr.

Ähnliches gilt auch in der Welt außerhalb des praktizierten Sports. Sportvereine und -verbände, ganze Sportarten oder Unternehmen in einem Markt stehen ebenfalls im Wettbewerb zueinander – ob sie das nun wollen oder nicht: um Mitglieder, um sportliche Erfolge, um Marktanteile, um Ressourcen, um Fördermitteln etc. Ebenso gibt es auch innerhalb der Organisationen Wettbewerbe. Unterschiedliche Vorgehensweisen werden diskutiert, es gibt zwischenmenschliche Konflikte oder Mitarbeiter buhlen um einen begehrten Posten. 

Um nicht im Business-as-usual unterzugehen oder gegen eine Wand zu rennen, bedarf es einer Integration in neue Gegebenheiten, Veränderungen, eines Blicks über den Tellerrand und auch einer Offenheit für unkonventionelle Perspektiven und Herangehensweisen: Wir müssen also anpacken und etwas tun, um all unsere Kräfte, Fertigkeiten oder Wissen optimal nutzen zu können! Das tun wir, indem wir (Organisations-)Judo betreiben. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für Abteilungen und ganze Organisationen. Wir müssen das Rad aber nicht neu erfinden, um kreativ und innovativ zu sein.

Ausblick

Ein zweites Prinzip baut auf dem praktischen Seiryoku-Zenyo auf: das moralische Prinzip Jita-Kyoei. Übersetzt bedeutet das in etwa „gegenseitiges Gedeihen und gegenseitige Unterstützung“ [The Principle of Prosperity and Mutual Benefit] (Agúndez 2020, S. 49). Es ging Jigoro Kano, dem Entwickler des Judo, um weit mehr als um Sport und die optimale Nutzung von Energie. Es war eine Lebensphilosophie, ein Lebensweg (jap. ‚do‘ = Weg, Pfad), auf dem es um die Weiterentwicklung und Verbesserung auf körperlicher, geistiger und sozialer Ebene geht:

„The ultimate purpose of judo is the ultimate purpose of the human being, and I consider this to be the fulfilment of the self and benefit to the world“ (Jigoro Kano 1860-1938)

Es geht um viel mehr als Effizienz und Wettkämpfe zu gewinnen, ob nun der sportliche Wettkampf oder der Wettbewerb auf einem Markt oder um eine Beförderung. Und natürlich steckt hinter all dem noch deutlich mehr, als dieser kleine Eindruck hier vermitteln kann: Der Griff ist wichtig, aber nicht alles! 

Wir können viel vom Judo als Sport und als Lebensweg mitnehmen. In den nächsten Wochen werde ich immer mal wieder ein paar Gedanken zum Thema, was wir vom Judo für die ‚Welt der Organisationen‘ lernen können, teilen.

Wer neugierig ist, kann mir auch gerne eine Nachricht schicken [Kontakt]. Außerdem plane ich gerade eine Workshop-Reihe dazu – für Judoka und Nicht-Judoka. Bei Interesse bitte auch gerne bei mir melden.

Literatur

Adams, Neil. 1992. Grips. London: Ippon Books.

Agúndez, Ferran. 2020. Judo Management. judomanagement.

Elkington, Rob, Madeleine van der Steege, Judith Glick-Smith, und Jennifer Moss Breen, Hrsg. 2017. Visionary leadership in a turbulent world : thriving in the new VUCA context. 1. Aufl. Bingley: Emerald.

2 Gedanken zu „Judo und Organisationsentwicklung“

  1. Pingback: Judo und Organisationsentwicklung Teil II

  2. Pingback: Judo und Organisationsentwicklung Teil III

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