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Jita-Kyoei – Gegenseitig gedeihen und gegenseitige Unterstützung

Im ersten Beitrag zum Thema „Judo und Organisationsentwicklung“ habe ich bereits das moralische Prinzip Jita-Kyoei angesprochen. Neben dem praktischen Grundsatz des Seiryoku-Zenyo (maximal effiziente Nutzung von Energie) ist dies das zweite Prinzip, auf dessen Basis Jigorō Kanō (1869-1938) das Judo entwickelt hat. Dieses wechselseitige Gediehen, Wohlergehen und gegenseitige Unterstützung hat Kanō als oberstes Ziel des Menschen bezeichnet (Niehaus 2019, S. 181): „general prosperity for the whole world [allgemeiner Wohlstand für die ganze Welt]“ (Wichers und Hattink 2018, S. 75)

Wie im ersten Beitrag angeschnitten und auch beispielsweise in Seminaren oder Workshops kommt oft eine skeptische Frage auf: Judo ist doch ein Kampfsport. Ich nutze meine Fertigkeiten und Energie optimal effizient, um den Kampf zu gewinnen. Welches Gedeihen und welchen Vorteil hat denn nun der andere davon? Was hat meine Konkurrenz um eine Beförderung davon, wenn ich mich gegen sie oder ihn durchsetze? Oder wenn am Ende eines effektiven Kommunikationsprozesses eine Partei mehr von ihrer ursprünglichen Position aufgeben musste, als die andere? Wenn ich im Wettbewerb meiner Konkurrenz Kunden strittig mache? Das ist eine gute und wichtige Frage, um die es in diesem Beitrag gehen soll.

Was hat der andere davon?

Alleine, dass wir in den Wettstreit gehen und – je nach Wettstreit – uns darauf vorbereiten, neue Fertigkeiten aneignen, trainieren, recherchieren, Produkte und Ideen entwickeln, bringt uns bereits weiter. Wir verbessern und entwickeln uns also schon auf dem Weg in den „Kampf“. Das gilt natürlich für alle Beteiligten.

Vielen wird sicher etwas wie „aus Fehlern lernen“ oder Ähnliches, in den Sinn kommen. Und damit haben Sie vollkommen recht. Allerdings geht es um weit mehr als das individuelle Lernen des Verlierers/der Verliererin aus dem, was er oder sie nicht richtig gemacht hat. Zunächst lernen wir auch, so wir uns damit beschäftigen, was unser Gegenüber richtig oder besser gemacht hat als wir. In der nächsten Begegnung könne wir es dann wiederum besser machen. Wir sind entweder eine größere Herausforderung für die anderen oder gehen selbst als Gewinner hervor. An unseren Verbesserungen entwickeln sich dann die anderen ebenfalls. Das wechselseitige Gedeihen und der gegenseitige Vorteil sind dementsprechend als Prozess zu verstehen. Der bloße Fokus auf einzelne Ereignisse greift zu kurz. Im Prinzip dürfte das den meisten Leuten irgendwie zumindest theoretisch bekannt sein.

Was macht die Judo-Perspektive besonders? Judo legt einen ausdrücklichen Wert darauf, dass der/die andere mitwächst. In jedem Training orientieren wir uns stets daran, den Partner oder die Partnerin zu schützen. Wir üben am und mit Partner oder Partnerin und diese üben an und mit uns. „Ohne Partner, ohne willige Freunde, für deren Fortschritt man sich genauso verantwortlich fühlt, wie für den eigenen, ist Judo nicht möglich“ (Hofmann 1978, S. 12). Gleiches sollte für jedes Team und jede Organisation gelten.

Im Judo-Leistungssport gibt es regelmäßig internationale Trainingslager. Dort trainieren die Athleten und Athletinnen aus der ganzen Welt direkt mit ihrer Konkurrenz zusammen. Die Judoka reisen um den halben Globus, um an einem Trainingslager teilzunehmen, von dem sie genau wissen, dass durch ihre Teilnahme der potenzielle Gegner oder die Gegnerin im nächsten Wettkampf genau davon profitiert, dass man selber da ist. Ich habe schon öfter erlebt, dass Nicht-Judoka das befremdlich fanden.

Das Dojo

Doch nicht nur das Training, sondern auch der Trainingsort, das Dojo (do = Weg, jo = Ort, Platz; Dojo = Ort für den Weg), ist auf Jita-Kyoei ausgelegt. Das Dojo ist als Ort des Lernens, des gemeinsamen Wachstums und auch der Sicherheit arrangiert. Die Matte, auf der wir trainieren und kämpfen, federt beispielsweise ab, wenn wir fallen. Das Dojo ist ein Ort, an dem wir sicher ‚verhandeln‘ können, ohne Angst vor dem Fallen zu haben, in dem wir Risiken eingehen können, die wir woanders nicht eingehen können (Agúndez 2020, S. 117–118). Stellen Sie sich vor, jedes interne Meeting würde vor solch einem Hintergrund stattfinden? Wo es darum geht, das Beste für das Team oder die Organisation zu „erkämpfen“, wo es nicht um Gewinner und Verlierer geht. Wo die Leute mutig sind, auch mal etwas Ungewöhnliches zu probieren, wo Fehler erlaubt sind. Wo man sich trotz allen Kämpfens auch wieder aufhilft.

Durch das gemeinsame Lernen, Trainieren, Verhandeln und Wettkämpfen können wir uns entwickeln und vervollkommnen. Zum einen unterstützen wir uns also gegenseitig bei der Entwicklung.  Zum anderen können und sollen wir durch unsere individuelle Entwicklung der Welt „nützlich“ sein. Verbessere ich meine Fertigkeiten als Berater, profitieren meine Kunden und Kundinnen davon. Davon wiederum profitiert ihre Organisation usw.

Organisations-Judo

Judo ist mehr als nur Kampfkunst oder Kampfsport. Es ist ein Lebensweg für alle Lebensbereiche (Niehaus 2019, S. 225). All diese Gedanken können und sollten Einzug in Organisationen, Gruppen oder Teams erhalten. Um Organisations-Judo zu betreiben. Selbst wenn so etwas wie Agilität (ja, die Judo-Perspektive ist eine sehr agile) oder eine Fehlerkultur und „learning by failuer“ an vielen Orten schon exzitiert, wird selten wirklich der direkte Bezug dazu gemacht, dass mein erfolgreiches Handeln auch den „Verlierern“, dem Rest vom Team oder der gesamten Organisation zugutekommt. Es gibt zwar beispielsweise das Konzept des organisationalen Lernens durch Teamlernen oder das Teams und durch die Entwicklung ihrer Mitglieder lernen (siehe dazu Lantz et al. 2021). Aber zumindest meiner Wahrnehmung nach ist es eher selten, dass das universelle Prinzip des gegenseitigen Gedeihens grundsätzlich gilt und nicht nur für spezielle Team- oder Organisationsentwicklungsprojekte genutzt wird. Ohne auf spezielle Branchen oder gar Organisationen zu verweisen, gibt es zahlreiche Beispiele, wo ein Hyper-Wettbewerb genau das Gegenteil erzeugt. Der eigene Vorteil wird bewusst unter Schädigung anderer gesucht. Wenn beispielsweise Informationen teilweise oder sogar komplett anderen Team- oder Organisationsmitgliedern vorenthalten werden, ist das weit davon entfernt, ein leistungs- und entwicklungsförderliches Arbeitsumfeld zu sein. Wettbewerb ist unumgänglich, er sollte aber Jita-Kyoei folgen.

Da stellt sich also die Frage: Wie schaffen wir es, den Arbeitsplatz nicht nur zu einem Ort, an dem ich funktionell meine Arbeit verrichte, zu machen, sondern an dem es auch ein Dojo gibt? Wie müssen sich dafür Perspektiven, Werte, Praktiken ebenso wie räumliche Gegebenheiten wandeln?

Achtsamkeit und Respekt – Mokuso und Rei

Beginnen wir wie im Judo mit Achtsamkeit und Respekt. Jedes Judotraining und (meist in verkürzter Form) auch der Wettkampf wird durch ein Begrüßungs- und Verabschiedungsritual gerahmt. Die Judoka knien, z.B. im Kreis, einander zugewandt. Erst kommt das Kommando Mokuso – es „steht für Konzentration und Meditation“ (Deutscher Judo-Bund 2020, S. 13). Es dient zu Beginn dazu, im Hier und Jetzt anzukommen, den Alltag hinter sich zu lassen und sich auf das Training einzustimmen. Am Ende des Trainings wird entsprechend mit dem Training abgeschlossen und zurück in den Alltag übergeleitet. Auf das Kommando Rei endet die kurze Meditation mit einer Verbeugung. Wir zeigen den anderen Trainingsteilnehmern und Teilnehmerinnen oder auch im Wettkampf unseren Gegnern oder Gegnerinnen Höflichkeit, Wertschätzung und Respekt. Wir signalisieren, dass wir für ein gemeinsames Training oder einen fairen Wettkampf im Sinne des Jita-Kyoei bereit sind (Kodokan Institute).

Vielleicht gehen wir in unseren Organisationen oder Teams mal auf die Suche nach geeigneten Praktiken, um diese Prinzipien umzusetzen. Mit denen wir uns auf Meetings, Diskussionen, Vorträge, Mitarbeitergespräche etc. im Sinne der Achtsamkeit einstimmen (Mokuso) und die wir dann auch bei gegensätzlicher Sichtweise auf Basis von Respekt (Rei) erfolgreich für alle Beteiligten absolvieren können. Mir persönlich genügt so etwas wie die Floskel vor einem Meeting „schön, dass ihr alle da seid, lasst uns beginnen“, nicht. Es geht um wahre Achtsamkeit und aufrichtigen Respekt. Davon profitieren dann nicht nur die Einzelnen, sondern auch die gesamte Organisation.

Möchten Sie das Thema genauer beleuchten oder brauchen Sie ein paar Anregungen, wie Sie das Prinzip in Ihrer Organisation oder Team nutzen oder stärken können? Schicken Sie mir eine E-Mail, eine WhatsApp oder reservieren Sie gleich einen 15-minütigen Termin für ein unverbindliches Beratungsgespräch:

Literatur

Agúndez, Ferran. 2020. Judo Management. judomanagement.

Deutscher Judo-Bund. 2020. Taiso. Das 4. Element des Judo. https://assets.judobund.de/public/uploads/taiso-konzept.pdf (Zugegriffen: 29. Apr. 2022).

Hofmann, Wolfgang. 1978. Judo. Grundlagen des Stand- und Bodenkampfes. Niedernhausen: Falken-Verlag.

Kodokan Institute. o. J. Judo and Rei – Etiquette. http://kodokanjudoinstitute.org/en/courtesy/etiquette/ (Zugegriffen: 20. Apr. 2022).

Lantz, Annika, Daniela Ulber, und Peter Friedrich. 2021. Effektive Teamarbeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Niehaus, Andreas. 2019. Leben und Werk KANŌ Jigorōs (1860-1938). 3. Aufl. Baden-Baden: Ergon.

Wichers, Jennifer Berendina Frederique, und Ben Hattink. 2018. Judo as a supportive tool for business and entrepreneurship. Quality in Sport 4: 74–88.

Ein Gedanke zu „Judo und Organisationsentwicklung Teil II“

  1. Pingback: Judo und Organisationsentwicklung Teil III

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